Geheimtipp auf Mallorca: Der Kiez von Palma
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Zwei Prostituierte im Viertel Sa Gerrería erinnern an das ehemalige Rotlichtviertel Palmas.
© Quelle: Oliver Schindler
Hier und da bröckelt Putz von den Fassaden, blättert Farbe von einigen Fensterläden, Lamellentüren und Balkonen. Die Anzahl der Geschäfte und Restaurants nimmt schlagartig ab. Shopping-Meilen und Souvenirläden sind hier nicht zu sehen. Filialen der üblichen Fast-Food-Imbisse, Café-Ketten und Modeläden auch nicht. Es sind plötzlich deutlich weniger Menschen in den Gassen unterwegs. Die Einheimischen sind jetzt in der Überzahl.
Das Viertel Sa Gerreria in der Altstadt von Palma de Mallorca ist nur ein paar Schritte von der Plaça Major und dem Mercat de l’Olivar entfernt, und doch ist das ehemalige Rotlichtviertel unter Touristen nicht so sehr bekannt. Im Nordwesten grenzt Sa Gerreria an die Einkaufsstraße Via Sindicat. Wer diese Shopping-Meile überquert, taucht in eine andere Welt ein.
Die berühmte Chocolatería in Palma
Grüne Kronleuchter, rote Vorhänge, Marmortische mit Bugholzstühlen, ein großer golderner Spiegel und üppige Blumensträuße in Porzellanvasen prägen das Interieur der Chocolatería Ca’n Joan de s’Aigo. Schwarz gekleidete Kellner mit weinroten Schürzen eilen von Tisch zu Tisch. Vor allem Einheimische haben es sich hier gemütlich gemacht, auch ein paar Touristen sind da.
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Beim berühmten Chocolatier C’an Joan de s’Aigo können Reisende die Eindrücke bei einer heißen Schokolade und einem Stück „Cuarto“ auf sich wirken lassen.
© Quelle: imago images/Tolo Balaguer
Die Chocolatería liegt versteckt in einer Gasse am südlichen Ende der Via Sindicat. Seit 1977 bietet die Familie Martorell hier mallorquinische Leckereien an, gegründet wurde der Betrieb schon im Jahr 1700. „Damals hat dort eine einzige Frau gearbeitet, es gab einen großen Ofen und vier Dinge zur Auswahl. Die Schmalzschnecke Ensaimada oder die Biskuitschnitte Cuarto und dazu heiße Schokolade oder Mandeleis. Eine Karte gab es nicht“, erklärt der jetzige Geschäftsführer Pere Joan Massanet.
Die vier Spezialitäten sind heute die gleichen wie damals. Auch die Preise sind nach wie vor gering. Sie beruhen auf dem sozialen Engagement der Familie Martorell: „Das Ca’n Joan de s’Aigo soll für alle sein“, sagt Massanet. In den Gassen von Sa Gerreria herrscht Stille, bis plötzlich der Hall von Stimmen und Schritten zu hören ist. Auf einem schmiedeeisernen Balkon schaukelt Wäsche hin und her. Erdfarbene Hauswände mit bunten Graffiti wechseln sich mit frisch sanierten Fassaden ab.
Auch brach liegende Baulücken und Gerüste, die Balkone oder ganze Häuser abstützen, sind jetzt zu sehen. Es taucht nur noch ab und zu ein Geschäft, ein Restaurant oder ein Mensch auf. „Das Rotlichtviertel Sa Gerreria war eine No-go-Area. Und die Chocolatería Ca’n Joan de s’Aigo war die große Ausnahme“, sagt Marc Morell, Sozialanthropologe an der Universität der Balearen in Palma. Prostitution, Drogenhandel, Kriminalität – Sa Gerreria galt bis etwa 2007 als zu gefährlich.
Gentrifizierung in Sa Gerreria
Dann setzte die Gentrifizierung ein: Investoren entdeckten das Arbeiterviertel, kauften für wenig Geld heruntergekommene Häuser, sanierten und modernisierten sie und verkauften die Immobilien für viel Geld an andere Investoren weiter.
Dieser Prozess wiederholte sich in der Regel mehrfach, sodass die Mieten immer weiter stiegen und die alteingesessenen Bewohner aus dem Viertel verdrängt wurden. „Nicht die neuen Bewohner mit mehr Einkommen sind die Gentrifizierer, sondern die Immobilienspekulanten, die nicht im Viertel leben, sondern nur daran interessiert sind, die größtmögliche Differenz zwischen alter und neuer Miete einzustreichen, die sogenannte Mietlücke“, erklärt Morell.
Das alte Viertel
Auf der Plaça Sant Antoni stehen zwei Prostituierte vor einem baufälligen Haus. Nur das Erdgeschoss gibt es noch, bis auf eine Tür mit Vorhängeschloss ist es zugemauert. Die beiden sprechen mit einem alten Mann mit Schiebermütze, der in einer Ecke auf einer Kiste hockt und Zeitung liest. Zwischen ihnen ist eine lilafarbene Wandmalerei – Frida Kahlo sieht besorgt aus, aber es sprießt ein Baum um sie herum. Vor dem leer stehenden Gebäude auf der anderen Straßenseite sitzen zwei Betrunkene im Hauseingang.
Ein Tattooladen, ein Beautysalon und Rotlichtkneipen sind hier zu finden, aber auch neue Szene-Cafés, Designer-Geschäfte für Büromöbel und Lampen, zwei große Banken und eine Immobilienfirma. Die Plaça Sant Antoni liegt am nördlichen Ende der Via Sindicat. Es ist der einzige Ort in Sa Gerreria, der noch an das frühere Rotlichtviertel erinnert. Einige wenige Prostituierte sind geblieben, der Drogenhandel hingegen hat sich an einen anderen Ort verlagert und die Kriminalitätsrate ist inzwischen gering.
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Das Viertel Sa Gerrería lässt sich über die Kopfsteinpflaster-Gassen entdecken.
© Quelle: Oliver Schindler
In einer Ecke des Platzes befinden sich die Bar Michelis und die Bar La Puerta, die letzen beiden Rotlichtkneipen des Viertels. „Die Plaça Sant Antoni ist anders. Es ist ein besonderer Ort. Hier sind die letzten Mohikaner von Sa Gerreria“, sagt Marc Morell.
Ein paar Häuser weiter auf der Plaça Sant Antoni ist es voll geworden im Café Lolì. Eine Fototapete mit Palmen ist der Blickfang in dem kleinen Café mit Mittagstisch. Reiseführer und Stadtpläne von touristischen Hotspots wie Barcelona, Berlin und Amsterdam stehen im Regal. Manager, Künstler, Hipster, Studenten, Nachbarn und Leute aus dem Rotlichtmilieu essen hier hausgemachte italienische Pasta.
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Hippe Cafés säumen heute die Straßen von Sa Gerrería.
© Quelle: Oliver Schindler
„Wir haben einen bunten Mix an Gästen“, sagt Lorenzo Benelli. „Touristen kommen bisher nur selten.“ Er und seine Frau Lia, die aus der Nähe von Bologna stammen, haben das Café Anfang 2018 aufgemacht. „Wir haben uns nach einer Woche Urlaub auf Mallorca entschieden, hier ein Café zu eröffnen“, sagt Benelli. „In Rimini geht die Saison nur drei Monate, in Palma ist das ganze Jahr etwas los.“
In der Chocolatería Ca’n Joan de s’Aigo stehen wie immer Ensaimadas und Cuartos, heiße Schokolade und Mandeleis auf den Tischen. Und eine Karte gibt es inzwischen auch. Die vier Spezialitäten aus dem Jahr 1700 sind geblieben, nur ein paar neue mallorquinische Leckereien, Eissorten und Ensaimada-Füllungen sind hinzugekommen. Im Ca’n Joan de s’Aigo ist Gentrifizierung ein Fremdwort. Verdrängung durch Mietwucher ist hier nicht möglich. Das Haus ist in Besitz der Familie Martorell.
Reisereporter