Erasmus auf Sizilien: Lange Nächte, Mafia und Sambuca
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Flemming war ein Semester lang auf Sizilien.
© Quelle: Flemming Goldbecher
Wenn ich auf mein inzwischen fast beendetes Studium zurückschaue, stelle ich fest: Die sechs Jahre und ein bisschen haben mich enorm bereichert und reifen lassen. Doch es waren weniger die Inhalte meines Studiums, die Professoren oder die Kommilitonen, denen ich diese Entwicklung verdanke, sondern vielmehr mein Auslandssemester auf Sizilien.
Ende September 2014 begab ich mich auf das bis dahin größte Abenteuer meines Lebens – mit einem One-Way-Ticket von Berlin nach Catania. Im Gepäck: fünf Kilo mehr, als Easyjet erlaubte, zwei Semester Italienisch, die besten Wünsche meiner Familie, die Tränen meiner Freundin und eine Scheißangst.
Was, wenn meine Beziehung das nicht aushält? Was, wenn ich Catania nicht ausstehen kann? Was, wenn ich alle Prüfungen verhaue, weil ich doch eigentlich kaum ein Wort Italienisch spreche? Was, wenn dieser ganze Erasmus-Hype vollkommen übertrieben ist und kleine Dorftrottel wie ich nicht allein in die weite Welt hinausziehen sollten?
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Vom kilometerlangen Sandstrand südlich von Catania sieht man hinter der Stadt den gewaltigen Ätna aufragen.
© Quelle: Flemming Goldbecher
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Letztlich bestätigte sich nicht eine meiner Ängste. Die beiden Erasmus-Organisationen ESN und AEGEE beantworteten alle Fragen, halfen bei der Wohnungssuche und organisierten Ausflüge. Lediglich mit meinem Studium hatten sie nichts zu tun.
Ich ehrlich gesagt aber auch nicht. Zumindest nicht in den ersten Wochen. Viel zu aufregend war es, mein neues Leben. Und viel zu lang die Nächte. Wer soll da studieren?
Spanische Freunde in Italien
Meine rustikale – zwar gemütliche, im Winter jedoch viel zu kalte – Wohnung teilte ich mir mit zwei deutschen Studentinnen und einer polnischen Mitbewohnerin. Von wegen „ich suche mir männliche, italienische Mitbewohner“. Sowohl meine Freundin als auch mein imaginärer Italienischlehrer hassten mich dafür. Und ich mich im Nachhinein auch.
Das Gute an dieser Wohnung: Im Apartment über uns wohnten die Spanier. Gott allein weiß, warum jede Erasmus-Stadt von Spaniern überbevölkert wird. Vielleicht hat das Erasmus-Programm auch nur wegen dieser Menschen seinen Spitznamen „Erasmus-Orgasmus“ erhalten. Sie feiern gern, sie feiern viel, sie feiern immer – mit allem, was dazugehört.
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Die Spanier Rodrigo (l.) und Adrián (r.) wurden zu meinen besten Freunden auf Sizilien. Hier sind wir zusammen auf dem Ätna.
© Quelle: Rodrigo Nafría Ferreira
Eine gleichermaßen amüsante wie auch nervige Eigenschaft. Für mich bedeutete dies jedoch, dass ich kaum eine andere Wahl hatte, als mich ihnen Tag für Tag anzuschließen, wenn es wieder hieß „Vamos a fiesta“.
Neben den Spaniern, dem Finnen, der Slowenin, den Griechinnen, den Polen, dem Belgier, der Portugiesin, der Deutschen und dem Franzosen, die ich zu meinem engstem Freundeskreis zählte, suchte ich natürlich auch den Kontakt zu Italienern – sowohl in der Uni, beim Fußballspielen als auch im Alltag.
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Regionale, frische und vor allem preisgünstige Produkte gibt es auf dem Markt in Catania.
© Quelle: Flemming Goldbecher
Ich erinnere mich noch genau an den kleinen Plausch mit dem Käsehändler auf dem Markt nahe meiner Wohnung. Ihm stand die Verwunderung ins Gesicht geschrieben, als ich einen „sehr teuren Käse“ von ihm forderte. Nachdem wir uns darauf geeinigt hatten, dass mein Italienisch verbesserungswürdig und der Käse „eher billig“ sein sollte, überreichte er mir mit einem Grinsen 300 Gramm Pecorino.
Da kommt mir auch die Anekdote des Friseurs in den Sinn, der mich als „pazzo“ (wahnsinnig) bezeichnete, da ich ahnungsloser Ausländer in Catania mit einem Shirt des AS Rom herumlief. Nachdem er hektisch den Reißverschluss meiner Jacke hochgezogen hatte, wünschte er mir mit einem letzten entgeisterten Blick alles Gute im Hoheitsgebiet des stolzen Fußballclubs Catania Calcio.
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Sizilien: Begegnung mit der Mafia
Eine Begegnung der unangenehmen Sorte hatte ich, als ich mit einigen Freunden auf einer Sizilienrundreise unterwegs war. Noch während wir in unserem Mietwagen auf dem Parkplatz standen, erschien neben dem Fenster ein glatzköpfiger, finster dreinblickender Typ mit einer fleischigen Narbe, die quer über seine rechte Gesichtshälfte verlief, und verlangte Schutzgeld.
Zwei Euro waren ihm zu wenig, mit fünf gab er sich schließlich zufrieden. Hätten wir ihn nicht bezahlt, hätten wir unser Auto bei der Rückkehr vermutlich in einem anderen Zustand vorgefunden. Die Cosa Nostra, die sizilianische Mafia, lebt noch immer. Auch wenn man sie nur selten zu Gesicht bekommt.
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Das griechische Theater in Syrakus gilt als das größte der Antike.
© Quelle: Flemming Goldbecher
Die unzähligen Begegnungen mit Menschen prägten mein Auslandssemester. Geschichte, Kultur und Natur vervollständigten es. Als Italienliebhaber merkte ich schnell, dass die Insel nur wenig mit Umbrien oder der Toskana gemein hat. In Italien heißt es zynisch, alles jenseits der Stiefelspitze sei Afrika.
Tatsächlich wird Sizilien jeden überraschen, der nur den Norden des Landes kennt. Mancherorts scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Arm und heruntergekommen nennen es die einen, authentisch die anderen. Den typisch italienischen Charme muss man dennoch nicht missen.
Die engen Gassen, über die Wäscheleinen gespannt sind, gibt es sowohl in den Großstädten Catania und Palermo als auch in den kleinen beschaulichen Bergdörfern. Von den diversen Eroberern, Händlern und Reisenden, die sich im Laufe der Jahrhunderte auf der Insel niedergelassen haben, zeugen heute zahlreiche Tempel, Amphitheater, Burgen und Kirchen.
Das Faszinierendste an Sizilien wurde jedoch nicht von Menschenhand geschaffen. Dreimal bestieg ich den gigantischen Vulkan Ätna, der die Insel geprägt hat wie nichts sonst. Zweimal übernachtete ich in einer Berghütte auf über 2.000 Metern Höhe.
Die eine Nacht im Januar 2015 war wohl die kälteste meines Lebens. Doch nur selten fühlte ich mich dem Sternenhimmel so nahe wie damals. Außerdem kann man es sich auch bei minus 25 Grad in einer Berghütte gemütlich machen – sofern genug Sambuca und Feuerholz vorhanden sind.
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Eine einsame Berghütte war unser Schlafplatz für die eiskalte Nacht auf dem Vulkan.
© Quelle: Flemming Goldbecher
Ich könnte noch so viel mehr erzählen. Allein die sizilianischen Speisen würden einen eigenen Beitrag benötigen. Arancini, Cannoli, Granita, Pizza, Pasta und Co. Die Liste ist endlos und ich habe sie rauf und runter gekostet. Tatsächlich war mein Italienisch am Ende des Semesters auch recht passabel, ebenso wie meine Studienleistungen.
Viel wichtiger erscheint mir jedoch, dass ich heute Freunde in ganz Europa habe, über den Tellerrand blicken konnte und sowohl Italien als auch Deutschland aus einer neuen Perspektive kennenlernen durfte. Erasmus ist eine Erfahrung, die jeder Mensch machen sollten!
Reisereporter