Stille Schönheiten auf Estlands Inseln
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Die Bischofsburg aus dem 14. Jahrhundert ist das Wahrzeichen von Kuressaare. Sie gilt als die besterhaltene Festung im Baltikum
© Quelle: Visit Estonia
Ein Haufen graubrauner Stecknadelköpfe tummelt sich vor dem Felsen im Meer. Tarvo Kullapere drosselt den Motor des kleinen Schiffs, das uns von der Insel Vilsandi in rund einer Stunde über die Ostsee in Richtung des unbewohnten Eilandes Harilaid gebracht hat.
Die wuseligen Stecknadelköpfe, die sich bei genauem Hinschauen als Seehunde entpuppen, lassen sich nicht irritieren, tauchen ab und ein paar Meter weiter wieder auf. „Keine Sorge, die kommen noch viel näher“, sagt Tarvo. „Kegelrobben sind sehr neugierig, diese Abwechslung lassen sie sich nicht entgehen.“ Wie wahr. Mit jedem Auftauchen sind die wendigen Tiere ein großes Stück näher am Boot.
100 müssen es mindestens sein, die mal gucken wollen, was vor „ihrer“ Insel so los ist. Hätte jemand einen Leckerbissen dabei, die eine oder andere Robbe wäre sicher zum Streicheln nah.
Seehunde-Beobachtung im Nationalpark Vilsandi
Der Ausflug zur Seehunde-Beobachtung ist hier, im westlichen Teil des Nationalparks Vilsandi, immer von Erfolg gekrönt – es sei denn, das Boot kann wegen zu hoher Windstärke erst gar nicht so weit aufs offene Meer rausfahren. Doch es gibt ja noch so viel mehr zu sehen! Vilsandi, westlich der größten Insel Saaremaa gelegen, gilt als wahres Vogelparadies. Nonnengänse und Kraniche, Eiderenten, Seeschwalben, Steinadler, Pirole und viele weitere gibt es hier. Mehr als 300 verschiedene Vogelarten lassen sich je nach Jahreszeit bei der Rast auf ihrer Reise in die winterlichen oder sommerlichen Gefilde beobachten.
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Tarvo ist auf Vilsandi geboren und einer der zehn festen Bewohner auf der Insel. Der 40-Jährige bietet in den Sommermonaten Naturwanderungen über das rund zehn Quadratkilometer kleine Eiland an – und wer möchte, kann sich für ein paar Tage in eines seiner urigen Fremdenzimmer auf einem riesigen Naturgelände einmieten und hier dem hektischen Alltag zu Hause einmal komplett entfliehen.
Die Halbinsel Harilaid gilt dank ihrer tierischen Bewohner als Seehundinsel. Der Bärensee östlich von Kuumi auf der größten estnischen Insel Saaremaa dagegen verdankt seinen Namen nicht dem hier weilenden Meister Petz, sondern einer Legende: Einst sollen hier sieben Bären so heftig gestritten haben, dass Gott keine andere Lösung fand, als sie mit Blitz, Donner und ganz viel Wasser zur Räson zu bringen. Vor Schreck stoben die Tiere daraufhin auseinander – und an der Stelle entstand der mit 8.000 Jahren älteste See Estlands mit sieben Buchten, eine für jeden Bären, der dorthin flüchtete.
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Mehr Romantik geht kaum: Mit dem Boot unterwegs auf einem See in Estland.
© Quelle: Birgit Jungke
Der Badesee mit kleinem Sandstrand liegt in einem waldigen Naturschutzgebiet. Hier gibt es eine Campinganlage mit kleinen Hütten und einigen, direkt am Ufer liegenden, komfortablen Gästehäusern. Idylle pur. Wer die Abgeschiedenheit schätzt, die reine Natur und einen grandiosen Ausblick genießen will, hat hier – vor allem in der Vor- oder Nachsaison – den perfekten Ort gefunden. Wem es doch ab und zu nach etwas Abwechslung gelüstet: Saaremaas Hauptstadt Kuressaare liegt nur knapp 20 Kilometer entfernt.
Mit knapp 15.000 Einwohnern wirkt Kuressaare wie eine typisch schwedische, gemütliche Kleinstadt. Gepflegte Holzhäuser säumen die Straßen. Es gibt zahlreiche Restaurants und Cafés, ein Theater, sieben Spa-Hotels und ein Kurhaus – schließlich haben seit 175 Jahren hier Heilschlammbäder Tradition.
Direkt hinter dem Kurhaus kommen Geschichtsinteressierte auf ihre Kosten: Die trutzige Bischofsburg mit ihren 20 Meter hohen Mauern aus dem 14. Jahrhundert ist die besterhaltene Festung im Baltikum. Sie beherbergt ein Museum zur Geschichte der Insel sowie unterschiedliche wechselnde Ausstellungen. Wer die steilen Treppen bis zur Aussichtsplattform erklimmt, wird mit einem grandiosen Blick auf den Jachthafen und über die Ostsee belohnt.
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Die Bischofsburg aus dem 14. Jahrhundert ist das Wahrzeichen von Kuressaare. Sie gilt als die besterhaltene Festung im Baltikum
© Quelle: Visit Estonia
Kuressaare bietet vor allem im Sommer viel Abwechslung: Außer Wassersportmöglichkeiten gibt es einen 18-Loch-Golfplatz. Man kann mit dem Rad die Insel erkunden, durch die zerzausten Kiefernwälder streifen oder die mehr als 30 Orchideenarten, die hier wachsen, bei einer Führung bestaunen. Angeboten werden Kurse in altem Handwerk, zahlreiche Musikveranstaltungen und ein großes Food-Festival. Und man kann in vielen kleinen Fischereibetrieben ganz urig die Köstlichkeiten der Insel genießen.
Sardellen auf estnische Art
Die Fischräucherei von Tiina Mai liegt nur wenige Kilometer vom Zentrum der Inselhauptstadt entfernt. Der kleine Gastraum ist schlicht eingerichtet: Holzbänke und Plastiktischdecken, ein Waschbecken und ein paar verblichene Schwarz-Weiß-Fotos an der Wand.
Nachdem Tiina Berge geräucherte Scholle, Hering, Hornhecht und auf estnische Art eingelegte Sardellen sowie frisch gekochte Kartoffeln und Gemüse aus dem eigenen Garten aufgetischt hat und alle restlos satt sind, reicht die Fischersfrau einen roten Plastikeimer mit einer schäumenden Flüssigkeit. Sollen sich die Besucher jetzt etwa alle gemeinsam in dem Eimer die Hände waschen? „Nein“, erklärt Tiina lachend, „das ist unser selbst gebrautes Bier.“ Es schmeckt ungewohnt – und deutlich nach Bananensaft. Die Wirkung dürfte nach ein paar Gläsern aber sicher eine andere sein ...
Deutlich kleiner als Saaremaa ist Hiiumaa – die Insel ist mit 1000 Quadratkilometern etwa so groß wie Rügen. Der Leuchtturm von Kopu, gebaut 1531, ist der drittälteste der Welt. Für das Leuchtfeuer vor der Erfindung der Elektrizität wurden seinerzeit ganze Wälder abgeholzt. Das Holz musste von außen nach oben transportiert werden – deshalb sind seine Wände so schief. Wer heute – natürlich durch das längst errichtete Treppenhaus – den Leuchtturm erklimmt, wird mit einer fantastischen Aussicht über Insel und Meer belohnt.
Hiiumaa ist sehr dünn besiedelt – wer hier lebt, genießt zweifellos die Ruhe. Doch das reicht vielen als Lebensinhalt nicht aus.
Tönis Masemägi lebt mitten auf dem Land auf der zu Hiiumaa gehörenden Halbinsel Kassari. Sein riesiges Grundstück in Soonlepa mit einem alten Gehöft grenzt direkt ans Meer, hier vermietet der umtriebige Este, der unter anderem auch als Immobilienmakler in Tallinn tätig ist, ein gemütliches Ferienhaus. Und nicht nur das: Der ehemalige Opernsänger und Theatertechniker hat die einstigen Stallungen des Gehöfts zum Konzertsaal umgebaut und organisiert hier im Sommer Musikveranstaltungen von Klassik bis Jazz. Der heimliche Traum, den Tönis Masemägi sich 2009 erfüllt hat, ist von der Straße aus nicht zu sehen.
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Eine riesige blaue Glaskuppel steht auf dem Grundstück von Tönis Masemägi gelandet zu sein.
© Quelle: Birgit Jungke
Wer jedoch die historischen Mauern auf seinem Privatgrundstück umrundet, kommt aus dem Staunen nicht heraus: Eine riesige blaue Glaskuppel scheint hier wie ein fremdes Ufo auf dem Grundstück gelandet zu sein. Es ist sein mit schicken Designermöbeln ausgestattetes Privathaus, das sich ausschließlich aus regenerativen Energien speist. Hier lebt er, wenn er nicht gerade in seinem Tallinner Stadtdomizil weilt, mit seiner Frau Reelika Agasild – und muss auf absolut keinen Komfort verzichten. Eisschrank, Riesenfernseher, Waschmaschine – alles ist da. „Wir wollten ein Haus, das total unseren Bedürfnissen entspricht – und dieses ist es“, sagt der Tüftler, der trotzdem ständig damit beschäftigt ist, sein Haus weiter zu optimieren.
Ihren Traum von der Unabhängigkeit haben sich auf der Halbinsel Sarve auch Heli Hahndorf und ihr Mann Kalli Talvi erfüllt. Auf ihrem Hof Pähkli vermieten auch sie eine gemütlich eingerichtete Blockhütte mit dazugehöriger Sauna, doch als Hauptjob fertigt Kalle, ein gelernter Tischler, individuelle Holzmöbel in urigem Design.
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Heli Hahndorf stellt auf Sarve nicht nur Strickwaren aus Alpakawolle, sondern auch Naturkosmetik her.
© Quelle: Birgit Jungke
Heli hat sich eine Kosmetikwerkstatt eingerichtet und kreiert ihre eigenen Kräuterseifen und Shampoos, die in exklusiven Bioläden in Tallinn verkauft werden. Holunderblütenmarmelade, Sirup und Tees sind weitere selbst gemachte Erzeugnisse. Auch Socken und Handschuhe, die Frauen aus dem Dorf stricken, gehören dazu – die Wolle dafür liefern drei Alpakas, die sich auf dem großen Hof tummeln und ganz nebenbei dafür sorgen, dass das Gras stets geschoren ist. Die Großstadt, in denen Heli und Kalli früher jahrelang ein Restaurant betrieben haben, vermissen die beiden keine Minute: „Wir haben hier unser Paradies gefunden.“
Tipps für den Urlaub in Estland
Anreise: Fluggesellschaften wie Lufthansa bieten ab verschiedenen deutschen Städten Direktverbindungen nach Tallinn an. Flüge mit Zwischenstopp in Riga sind zum Beispiel bei Baltic Air buchbar. Mit der Fähre ist die Anreise ab Rostock oder Travemünde nach Helsinki möglich. Von dort geht es weiter nach Tallinn. Zu den Inseln gibt es einen regelmäßigen Fährverkehr.
Einreise: EU-Bürger benötigen kein Visum. Sie müssen lediglich einen Personalausweis oder Reisepass mitführen.
Beste Reisezeit: Estland ist ein Ganzjahresziel. Der Herbst und Winter bieten sich eher für eine Städtereise, einen Wellnessaufenthalt oder zum Skilanglauf an. Die beste Jahreszeit für einen Urlaub in der Natur sind der Früh- und Hochsommer. Am schönsten sind die Monate Mai bis September. Dann ist es warm und trocken. Um Mittsommer herum, der am 24. Juni mit Feuern, Tänzen und heidnischen Gesängen gefeiert wird, geht die Sonne kaum unter, Besucher können dann die sogenannten Weißen Nächte erleben.
Unterkunft: Während in der Hauptstadt Tallinn das Angebot an Hotels groß ist, bietet sich auf dem Land das Wohnen in Privatunterkünften, Pensionen oder Ferienhäusern an. Es gibt im Land rund 400 Ferienhöfe, die Reisenden auch Einblicke in das Leben der Esten bieten.
Reisereporter