Saigon: Die Stadt der endlos vielen Motorroller
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Saigon: Die Stadt der Motorroller. Hier sind die Straßen immer voll und laut.
© Quelle: Nadine Wolter
Phase 1: Die verkorksten Flitterwochen
Eigentlich fühlen sich die ersten Tage in einem fremden Land immer an, als hättest du dich frisch verliebt. Alles ist so neu, die Gerüche, die Geräusche, die Bilder beim Spaziergang durch die Straßen. Du bleibst lange wach, schläfst wenig, bist trotzdem nie müde und willst so viel wie möglich so schnell wie möglich von dem noch Fremden kennenlernen.
Kalervo Oberg, ein US-Anthropologe, hat diese erste euphorische Phase des Eingewöhnens in einem fremden Land einmal als die „Honeymoon-Stufe“ bezeichnet. Beflügelt von den neuen Eindrücken aus der neuen Stadt sollte ich mich eigentlich fühlen, als würde ich niemals Probleme haben, mich auf die neue Umgebung einzustellen. Sollte…
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So viel Trubel: Saigon erschlägt mich, anstatt mich zu begrüßen.
© Quelle: Nadine Wolter
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Bei mir und Saigon ist das anders. Ich lande hier an einem Dezembermorgen. Es ist vor allem laut, heiß und stickig und ich bin enttäuscht. Die Stadt erschlägt mich, anstatt mich zu begrüßen.
Ich warte zwar, doch Obergs Flitterwochenbegeisterung erfasst mich auch in den nächsten Tagen nicht. Ich habe die erste Phase offenbar übersprungen und starte gleich mit Eingewöhnungsstufe zwei: der Krise.
Phase 2: Der Kulturschock
Ich bin überfordert. Meine Ankunft ist jetzt ein paar Tage her. Jede Straße in meinem Viertel, Distrikt 10, sieht für mich gleich aus: kein Bürgersteig, Menschen auf tiefen Hockern und Essensstände, an denen Sachen verkauft werden, die gefühlt schon den ganzen Tag in der Sonne lagen.
Wenn ich morgens bei 30 Grad nach etwas zum Frühstücken suche, stehe ich ewig am Straßenrand, weil ich nicht weiß, wie ich durch den niemals abbrechenden Strom an Motorrollern auf der Straße hindurchkommen soll, ohne überfahren zu werden.
Wenn ich abends auf unserem Balkon stehe, brüllen mir die gleichen Rollermotorenschwärme von unten entgegen, nachts prasselt der Monsun auf die Häuserdächer, morgens weckt mich Baustellenlärm. Saigon wächst unkontrolliert und einfach überall dort, wo Platz ist. Auf einige Häuser werden Etagen draufgesetzt, an den noch leeren Stellen entstehen innerhalb von Wochen neue Gebäude.
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Auch nachts herrscht in Saigon keine Ruhe – die Straßen sind immer voll und laut.
© Quelle: Nadine Wolter
Ich werde in den kommenden drei Monaten dreimal die Wohnung wechseln und verschiedene Viertel kennenlernen und weiß noch nicht, dass ich in jedem der kleinen Apartments neben einer Baustelle wohnen werde, die mich verlässlich von Montag bis Samstag um 7 Uhr morgens wecken wird.
Ich fühle mich isoliert, überall sind Menschen, aber ich komme trotzdem mit niemandem ins Gespräch. Und ich bin überempfindlich: Dass die Vietnamesen an der Supermarktschlange drängeln, empfinde ich als ungemeine Frechheit. Dass, wenn der Baustellenlärm aufhört, die Straßenverkäufer die Gassen mit ihren selbst aufgenommenen Werbebotschaften aus scheppernden Lautsprechern beschallen, als unglaublich störend.
Auch die Hitze ärgert mich jeden Tag aufs Neue, während ich trotzdem versuche, alle Wege zu Fuß zu laufen. Noch kann ich nicht einsehen, dass es dafür einfach zu heiß ist.
Phase 3: Die Eingewöhnung
Wir leben jetzt ein paar Wochen in Saigon, und das nölige Etwas meiner Selbst hat sich verabschiedet. Mein Humor ist zurückgekehrt und mit ihm die Fähigkeit, die vielen Vorteile des Lebens in Saigon wahrzunehmen. Ich bin somit in Obergs dritter Stufe angekommen: der allmählichen Eingewöhnung.
Ich habe mich angepasst. Während mich der Verkehr anfangs genervt hat, bin ich jetzt Teil von ihm. Ich bin von den Fußgängern, die in Saigon einen eher schweren Stand haben, zu den Rollerbeifahrern übergesiedelt. Viel besser. Der Fahrtwind kühlt mich auf jeder Tour und zum anderen komme ich in Saigon mit keinem anderen Verkehrsmittel so schnell von einem Punkt zum anderen wie mit dem Rollertaxi.
Die Touren buche ich über Apps wie Grab oder Uber. „Xe ôm“ werden die Rollertaxis hier genannt, „Xe“ bedeutet in etwa „Fahrzeug“ und „ôm“ „Umarmung“, erklärt mir ein Arbeitskollege. Er erzählt mir auch, dass in Saigon sechs Millionen Roller unterwegs sind. Verlässliche Zahlen gibt es nicht, aber angesichts der Rollerschwärme, die zu jeder Tagesszeit über die Straßen rollen, erscheint seine Schätzung recht glaubhaft.
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Als Beifahrerin auf dem Rollertaxi kommst du am schnellsten von A nach B.
© Quelle: Nadine Wolter
Auch für die benachbarten Baustellen habe ich eine Lösung gefunden. Mein Wach-und-Schlaf-Rhythmus verläuft jetzt analog zum Bau- und Straßenlärm. Eigentlich ist das ohnehin viel besser. Die Sonne steht um 7 Uhr morgens noch nicht so hoch, richtig heiß wird es erst ab 11 Uhr. Auf meinem Weg zum Baguetteverkäufer laufe ich jeden Morgen durch die Gassen in unserem Viertel, vorbei an Menschen, die in ihren Hauseingängen sitzen und Pho frühstücken. Man erkennt mich langsam wieder, leise Grüße werden ausgetauscht.
Meinen Appetit hatte ich kurzzeitig aus Angst vor Lebensmittelvergiftungen und aufgrund von Warnungen von Freunden vor diversen Durchfallerkrankungen verloren – jetzt ist er wieder da. Saigon ist keine Stadt, in die du dich wegen ihrer prächtigen Gebäude oder einer verheißungsvollen Metropolität verliebst, sie bleibt überfüllt, chaotisch, grau-bunt und riecht nach Abgasen.
Ich freunde mich mit ihr vor allem durch das Essen an. Man muss hier nie kochen. Gefühlt jeder kauft und isst an Ständen oder Imbissen mit kleinen Metallhockern und -tischen an der Straße. Richtige Restaurants halten die meisten Vietnamesen, mit denen ich spreche, für überflüssig und zu teuer. Auch jene, die es sich leisten könnten, diese regelmäßig zu besuchen.
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Gegessen wird auf winzigen Hockern am Straßenrand.
© Quelle: Nadine Wolter
Noch etwas zaghaft mit Pho angefangen, probiere ich später alles aus, was es auf der Straße so zu kaufen gibt. „Bun rieu“, eine Tomaten-Krebsfleisch-Suppe, schmeckt – auch nachdem ich einen Würfel geronnenes Blut aus der Suppe entfernt habe – nicht so gut wie erwartet. „Banh Mi“, „Oc“, „Bun Cha“ und „Ban Tam Binh“ dafür schon.
Das gemeinsame Sitzen beim Abendessen oder das von meiner Seite leicht unbeholfene Herumstehen vor einem Essensstand helfen mir auch bei einer anderen Sache: Ich unterhalte mich mit Menschen. Kinder probieren ihr Englisch an mir aus. Erwachsene erklären, wie man dies oder jenes isst und verteilen Komplimente für meine nicht sonderlich entwickelten Fähigkeiten, mit Stäbchen zu essen.
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Bei einer Hochzeit in Saigon dabei sein zu dürfen war für Nadine ein kulturelles Highlight.
© Quelle: Nadine Wolter
Mein Wille allein scheint zu zählen. Na gut. Eines Tages landen wir als Gäste auf einer Hochzeit, mir wird ein Baby in die Arme gedrückt, es fängt sofort an zu weinen. Das macht den unglaublich freundlichen Gastgebern nichts aus.
Dafür wird nun mit mir angestoßen. Ständig. Ein Vorurteil, dass Vietnamesen über Europäer zu haben scheinen, ist, dass wir unendliche Mengen an Bier trinken können. Auch nachmittags bei 33 Grad. Letztlich rettet mich ein bierfarbenes Ginger Ale, das ich in mein Glas kippe und freudig zum zwanzigsten Mal zum Anstoßen hebe.
Phase 4: Das Angekommensein
Die vierte und letzte Phase des Einlebens erreiche ich in Saigon nicht. Laut den vier Stufen der kulturellen Eingewöhnung hat man mit dem Erreichen von Stufe vier ein zweites Zuhause gewonnen, eine neue Heimat neben der alten. Drei Monate sind nicht lang genug für mich gewesen, um mich in Saigon völlig zu Hause zu fühlen. Aber sie sind lang genug, um bestimmte Dinge zu vermissen.
Als ich in Deutschland ankomme, fällt mir auf, wie leer die Straßen sind. Auch der Luxus, jeden Abend essen gehen zu können, ist wieder vorbei. Am häufigsten denke ich ans Rollerfahren. Am schönsten war das abends, wenn der Verkehr zwar nicht weniger hektisch, aber die Luft etwas kühler war und Saigon geleuchtet hat.
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Im Dunkeln leuchtet die Stadt in allen erdenklichen Farben.
© Quelle: Nadine Wolter
Viele Besucher strömen abends auf die Rooftopbars, um die Lichter der Stadt zu betrachten. Dabei reicht dafür eine nächtliche Rollerfahrt über Saigons Brücken und Straßen völlig aus. Hinten auf dem „Xe ôm“ sitzend, manchmal mit Musik im Ohr und immer mit einem kleinen Mundschutz vorm Gesicht, glitzerte die Stadt für mich.
Dann, inmitten von Tausenden anderen Rollerfahrern, habe ich mich immer für einen Moment zu Hause gefühlt. Meine Grab-App für die Rollertaxis habe ich immer noch nicht von meinem Handy gelöscht. Ab und zu ploppen vietnamesische Gutscheincodes auf meinem Bildschirm für Fahrten in Saigon auf. Dann freue ich mich.
Reisereporter